Abenteuer: Bücher! ist meine kleine Artikelreihe, in der ich Bücher bespreche und Rollenspielkonzepte daraus extrahiere. Entgegen meiner sonstigen Philosophie verrate ich gnadenlos Geheimnisse und Pointen der besprochenen Geschichten.
Roger Zelazny
Roger Zelazny lebte von 1937-1995. Er studierte Psychologie und englische Literatur, war bei der Nationalgarde von Ohio und in einer Einheit für psychologische Kriegsführung, arbeitete in verschiedenen Sozialämtern und wurde 1969 hauptberuflich Schriftsteller. Er gewann sechsmal den Hugo Award und dreimal den Nebula Award. Zu seinen bekanntesten Werken gehören die Romane, die den Amber-Zyklus bilden.
Der Amber-Zyklus
Roger Zelaznys Romanreihe Die Chroniken von Amber ist zweifellos ein Meilenstein der Science-Fiction- und Fantasyliteratur. Sie wird in Appendix N: Inspirational and Educational Reading im Spielleiterhandbuch von AD&D1 genannt, in dem Gary Gygax Literatur auflistet, die D&D und AD&D inspirierte. Es ist ein großes Vergnügen auf Jagd nach den dort genannten Büchern zu gehen (viele davon sind nur schwer zu bekommen) und sich durch die Klassiker der Genreliteratur der 70er und 80er Jahre zu arbeiten. Viele der Geschichten haben auch heute nichts an ihrer Wirkung verloren.
Das gilt besonders für den gerade bei Klett Cotta erneut aufgelegten Amber-Zyklus. Die ersten fünf Bände machen wohl den wichtigsten Teil der Reihe aus. Die darauf folgenden fünf Romane werden allgemein als weniger beeindruckend und wegweisend angesehen.
Die Neun Prinzen von Amber
Im ersten Roman der Reihe erwacht der Ich-Erzähler, Corwin von Amber, in einem Krankenhaus im Staate New York unserer Erde. Er weiß zunächst weder, wer er ist, noch wie er dorthin gelangte. Er flieht aus dem Krankenhaus. Im weiteren Verlauf entdeckt er, dass er zur Königsfamilie von Amber gehört und macht sich auf, seinen Bruder Eric vom Thron zu stürzen.
Der Roman ist eine dichte und schnelle Erzählung, die durch den Kniff des Gedächtnisverlusts von Corwin den Leser auf die gleiche Entdeckungsreise schickt wie die Hauptperson. Wird der Leser mit für ihn unerklärlichen Ereignissen konfrontiert, geht das Corwin genauso. Erklärungen der Welt wirken dadurch nicht aufgesetzt und machen auch reine Hintergrundinformationen zu etwas, das “erlebt” wird. Die Handlung rast förmlich. Nach nur wenigen Seiten ist Corwin bereits aus dem Krankenhaus geflohen und bei einer Frau, bei der er genau wie der Leser versucht herauszufinden, wie sie ins Gesamtbild der Verschwörung passt, in die er hineingeraten zu sein scheint. Von da aus geht es im gleichen Tempo weiter und schon bald ist er mitten im Kampf gegen seinen Bruder.
Ziel des Kampfs nichts anderes als das Zentrum der Realität. Amber ist die einzige wirkliche Stadt, nach deren Abbild alle Städte geschaffen wurden. Um sie herum liegen die Schatten – Abbilder wahren Realität, zu denen auch die Erde gehört. Die Familie Amber ist ein bunter Trupp aus mächtigen Individuen, die alle eigene Ziele verfolgen und unterschiedliche Bündnisse pflegen.
So faszinierend die Welt mit ihrer Magie, den Schatten, dem umliegenden Chaos und natürlich Amber selbst auch ist, der eigentliche Star der Romane ist die Königsfamilie. König Oberon ist verschwunden, was zum Kampf um den Thron führte. Oberon war nicht unbedingt beliebt – ein Markenzeichen vieler erfolgreicher Herrscher – und viele Familienmitglieder sind nicht böse über sein Verschwinden, aber dennoch will das Geheimnis um seine Abwesenheit gelöst werden. Die Familienmitglieder leben teilweise in offener Feindschaft zueinander – bis hin zu Mordversuchen und sogar bereits gelungenen Morden. Die weniger erfolgreichen Familienmitglieder stehen häufig hinter einem der mächtigeren. Ein großer Teil des Vergnügens an dem Roman besteht darin, die Familie kennenzulernen und die Bündnisse zu entschlüsseln. Die Persönlichkeiten äußern sich hauptsächlich durch ihre Handlungen. Tiefgründige Profile gibt es kaum, auch wenn die Figuren jederzeit dreidimensional wirken. Vermutlich lernt der Leser sie in den späteren Romanen genauer kennen.
In der Erzählung bleiben Lücken, wie sie in modernen Romanen kaum noch zu finden sind. Für mich machte das den Reiz des Schreibstils aus, der sich, wie ich finde, merkbar von modernen Romanen unterscheidet. Hier geht die Handlung in großen Schritten vorwärts. Wo manche moderne Zyklen sich seitenweise in Details über ihre Welt oder die Personen der Geschichte ergehen, läuft hier einfach die Handlung ab. Die Hintergrundinformationen ergeben sich daraus von allein. Natürlich hat die klassische Fantasy diesen Stil nicht für sich allein gepachtet, dennoch ist das Gefühl, eine Zusammenfassung eines eigentlich längeren Romans vor sich zu haben, eher etwas, das ich in gute ältere Phantastik einsortiere.
Der Roman endet an einer Stelle, die es erlaubt, mit dem Lesen aufzuhören. Das Ende ist jedoch eindeutig nicht das Ende der gesamten Geschichte. Es ist das Ende eines Kapitels einer Saga und die Neugier wird den Leser vermutlich zu den folgenden Büchern des Zyklus führen. Mich auf jeden Fall.
Die Welt von Amber
Die Welt von Amber ist faszinierend genug, dass bereits ein Rollenspiel darüber geschrieben wurde – ein echter Klassiker noch dazu. Amber Diceless Role-Playing ist nicht nur in Hinblick auf die Welt ungewöhnlich. Es ist das erste würfellose Rollenspiel und als solches ebenso ein Meilenstein wie die Romanreihe selbst. Nicht der Zufall von Würfeln treibt die Geschichte sondern die Spannung von Entscheidungen. Es gibt erstaunlich klare Regeln, wie Kämpfe abzuwickeln oder andere typischerweise durch Würfel entschiedene Situationen aufzulösen sind.
Es gibt viele fiktionale Welten in Romanen und Rollenspielen, die mit Schichten aus Realitätsebenen arbeiten. Doch Amber ist anders als die meisten von ihnen. Durch die Tatsache, dass die Realitäten nur Schatten der eigentlichen Welt sind, fühlt es sich auf jeden Fall anders an. Die Königsfamilie kann die Realitäten in den Schatten kontrollieren. Im Roman wird nicht erklärt, wie genau das vonstatten geht und die Kontrolle ist bei weitem nicht absolut. Die einzelnen Schatten werden auch nur grob angerissen. Der Leser erfährt, dass die Erde einer davon ist und Corwin muss ein paar von ihnen durchqueren. Insgesamt bleiben sie jedoch vage.
Die Familie kommuniziert über magische Karten miteinander. Eine der Schlüsselszenen des Romans ist, wie Corwin eines der Kartenspiele entdeckt und Kontakt zur Familie aufnimmt. Das ist eine Form der Magie, die meines Wissens bisher nicht im Rollenspiel kopiert wurde. Die Welt von Amber bildet ein ungewöhnliches Gesamtwerk, das durch die Familienmitglieder definiert und durch viele Einzelheiten etwas Besonderes ist und bleibt. Auch wenn ich mir, wie erwähnt, einbilde, einen gewissen 70er-Jahre-Schreibstil zu erkennen, bleibt Amber so unverbraucht wie damals, als der Zyklus erschien.
Ein aufmerksamer Spielleiter kann viele Ideen und Konzepte für sein Spiel aus dem Zyklus ziehen. Die folgenden beruhen auf der Lektüre des ersten Romans. Wer weiß, welche Schätzchen sich in den späteren Teilen verbergen …
Gedächtnisverlust als Abenteueraufhänger
Die Charaktere erwachen irgendwo und wissen nicht, wie sie dorthin gekommen sind – genau wie Corwin Amber, der im Krankenhaus mit eingegipsten Beinen aufwacht und sich an nichts erinnert. Der Abenteuereinstieg wurde im Laufe der Jahre so häufig benutzt, dass man ihn fast als Klischee bezeichnen muss. Beim ersten und auch beim zweiten Mal funktioniert er aber hervorragend und sorgt in den meisten Fällen für ein erinnerungswürdiges Abenteuererlebnis. Als ich das erste Mal ein Abenteuer damit habe beginnen lassen – in einem selbst erdachten Vampire-Abenteuer, das ich leider nie aufgeschrieben habe – wurde daraus eines der besten Rollenspielerlebnisse meines Lebens. Das war natürlich nicht allein meiner Leistung zu verdanken. Es hat damals einfach alles gepasst. Die Spieler waren von Vampire begeistert, das sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannten, die Stimmung hat gepasst und ganz generell waren ich und die Spieler im Einklang. Bei einer Raucherpause (sowas gab es damals noch) auf dem Balkon hörten wir, wie ein Nachbar eine traurige Melodie auf der Geige übte. Perfekt.
Der Roman zeigt anschaulich, wie man mit der Idee umgeht. Als Corwin im Krankenhaus aufwacht, hat er zunächst nicht viele Optionen. Da ist nur eine Schwester, die für ihn eindeutig etwas zu verbergen hat. Es bleibt ihm nur eins: Er muss aufstehen und aus dem Krankenhaus entkommen – eine klar gestellte Aufgabe, die man auch ohne Erinnerung an die Vergangenheit bewältigen kann. Außerdem weiß er zwar nicht, wo er ist, seine direkte Umgebung – und der einzige Ausweg daraus – sind aber eindeutig und verständlich. Es ist ein Krankenhaus mit Dingen, die man in einem Krankenhaus erwartet.
So würde ich das auch im Rollenspiel handhaben. Die Spieler brauchen etwas, auf dessen Basis sie Entscheidungen treffen können, die Umgebung sollte zu Beginn also immer eindeutig sein, auch wenn sonst nichts eindeutig ist. Aus dieser Umgebung gibt es nur einen Ausgang, nur eine mögliche Handlung, die mit einem Kampf oder ein paar Proben erfolgreich durchgeführt werden kann. Normalerweise dürfte es sich darum drehen, aus der unbekannten Situation zu entkommen, so wie Corwin aus dem Krankenhaus entkommt. Action ist bei so einem Beginn gut, denn sie gibt den zunächst unwissenden Spielern etwas zu tun.
Auch danach hat Corwin zunächst nur einen möglichen Anlaufpunkt: eine Frau, an die er sich kaum erinnert, von der er aber ausgeht, dass sie ihn kennt. Da er nicht weiß, was er preisgeben darf, gestaltet sich die Unterhaltung mit ihr sehr spannend. Im Rollenspiel wäre mehr Eindeutigkeit dennoch besser. Die Charaktere sollten einen, maximal zwei Anlaufpunkte haben, von wo aus sie sich neue Informationen beschaffen können.
Der Roman wirft ab diesem Zeitpunkt für jede beantwortete Frage mehrere neue auf. Außerdem muss sich Corwin mit Gefahren und Gegnern auseinandersetzen, die zu ihm kommen. Diese Vorgehensweise passt ebenfalls gut ins Rollenspiel. Es kann sich ein klassischer Detektivplot an die ersten ein oder zwei Szenen anschließen, in denen die Charaktere nur jeweils eine Handlungsmöglichkeit hatten. Haben sie erst ein paar Informationen über ihre Situation gesammelt, ergeben sich daraus Handlungsmöglichkeiten und neue Ziele (und neue Fragen). Gefahren kommen aus dem Dunkeln auf die Charaktere zu und sie müssen sich ihnen stellen, woraus sich weitere Handlungsmöglichkeiten und Informationen ergeben.
Später kommt der Punkt, an dem sich Corwin wieder an alles erinnert. Dieser Punkt markiert das Ende von Akt 2 – auch in einem Rollenspielabenteuer. Die Charaktere haben alle Informationen zusammengesammelt und machen sich auf, das Showdown zu erleben.
Intrigen und Personennetzwerk
Das Personennetzwerk bzw. die “R-Map” oder Relationship Map ist prinzipiell nichts Neues. Ron Edwards entwickelte das Konzept für das Rollenspiel für sein Regelwerk Sorcerer. Man könnte sagen, dass der gesamte Reiz des Amber-Zyklus aus einer R-Map resultiert. Die Königsfamilie ist weit verzweigt und ihre Mitglieder intrigieren und morden, lieben und hassen sich, woraus die komplette Handlung der Romanreihe resultiert. Der Leser erfährt nach und nach immer neue Bruchstücke. Das macht neben der ungewöhnlichen Welt und einer schnellen Erzählweise viel der Spannung des ersten Romans – uns sicher auch der folgenden – aus.
Im Rollenspiel ist das ein tolles Konzept, das es dem Spielleiter erlaubt, eine freie Handlung ohne Vorentscheidungen zu gestalten. Er entwickelt ein Netz aus Personen, die zueinander in unterschiedlichen Abhängigkeiten und Abneigungen stehen und gegenläufige Motivationen verfolgen. Kommen die Spielercharaktere damit in Berührung, bringen sie das Netz in Bewegung und lösen Handlungen aus, die wieder zu neuen Handlungen und Gefahren führen.
Nach einem Testspiel für das Cthulhu-Abenteuer Verlobung auf Girnwood Manor, dessen Handlung auf einem einfachen Personennetz beruht, schlug ich den Spielern vor, das Netz als Handout zur Verfügung zu stellen. Ich wollte damit den Einstieg in die Geschichte erleichtern. Eine Spielerin wies mich jedoch darauf hin, dass es für sie ein großer Spaß war, die Beziehungen zwischen den Personen zu entschlüsseln. Sie wollte das Netz selbst entdecken und nicht einfach hingelegt bekommen. Ich übernahm die Idee gern.
Die Neun Prinzen zeigen, dass das nicht nur auf die eine Spielerin zutrifft. Die Leser entdecken nach und nach die Königsfamilie und das ist spannend. Es könnte für jeden Spielleiter, der den Zyklus liest, eine interessante Übung sein, das Familiennetzwerk der Familie Amber aufzuzeichnen und zu analysieren.
Das Spiegelbild
Im Meer des Chaos liegt Rebma. Die Stadt ist ein genaues Spiegelbild von Amber und dort lebt ein ausgestoßenes Familienmitglied. Als Spiegelbild ermöglicht sie Corwin und seinen Gefährten, das “Muster abzuschreiten” und so nach Amber zu gelangen. Das Muster ist eine Art magischer Ort, der jedem große Prüfungen auferlegt, der es abschreiten will.
So ein Spiegelbild ist ein tolles Konzept. Man stelle sich ein Labyrinth oder eine Stadtruine (einen klassischen Dungeon) vor, wofür ein entsprechendes Abbild existiert. Die Charaktere könnten erst das Spiegelbild erforschen und wichtige Informationen über das Original sammeln. Sie hätten die Möglichkeit, eine Karte zu erstellen, bevor sie sich in den eigentlichen Dungeon begeben. Aber ein Spiegelbild kann verändert werden (Flecken auf dem Spiegel?) und natürlich unterscheiden sich die Bewohner, so wie sich die Bewohner von Rebma grundlegend von Amber unterscheiden. Wenn die Charaktere erst einmal “üben” können, bevor sie sich aufmachen, das eigentliche Ziel zu untersuchen, kann der Spielleiter leicht und effektiv mit ihrer Erwartungshaltung spielen. Aus Erwartungen erwächst Spannung.
Die neun Prinzen von Amber ist der Auftakt zu einer faszinierenden Fantasyreihe, die nicht umsonst Kultstatus erreicht hat und trotz ihres Alters immer wieder aufgelegt wird. Die folgenden Romane beinhalten sicherlich viele weitere gute Ideen für das Rollenspiel. Ein kurzweiliges Leseerlebnis versprechen sie allemal.