Abenteuer: Bücher! ist meine kleine Artikelreihe, in der ich Bücher bespreche und Rollenspielkonzepte daraus extrahiere. Entgegen meiner sonstigen Philosophie verrate ich Geheimnisse und Pointen der besprochenen Geschichten.
Haruki Murakami
Haruki Murakami ist der Superstar der japanischen Literatur. Er hat diverse Literaturpreise gewonnen und jedes neue Buch wird begierig von der Leserschaft erwartet. Er beschreibt im Vorwort eines seiner Bücher, wie sein erster Roman entstand: Eines Tages wurde ihm plötzlich klar, dass er einen Roman schreiben würde. Das tat er und fand ihn furchtbar. Also dachte er sich, wenn er schon nicht gut schrieb, konnte er auch alles über Bord werfen, was er glaubte über Literatur zu wissen und auf englisch schreiben. Das Ergebnis war ein sehr dichter Roman, der, weil Murakami ihn nicht in seiner Muttersprache geschrieben hatte, auf alle Floskeln verzichtete und kurze, knappe Sätze benutzte. Diesen übertrug er ins Japanische zurück und schickte ihn ein. “Wenn der Wind singt” erschien 1975.
Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt
„Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt“ ist Murakamis viertes Buch. Es erzählt zwei Geschichten, die erst ganz zum Schluss folgerichtig zusammenlaufen. In der ersten Erzählung gerät der Protagonist zwischen die Fronten in einem Datenkrieg. Er soll im Auftrag eines Neurophysiologen ein verbotenes Verschlüsselungsverfahren anwenden. Gemeinsam mit dessen Enkelin erforscht er das unterirdische Labor des Neurophysiologen und später eine geheime, unheimliche Höhlenwelt unterhalt Tokios. Als Verschlüsselungscode wird das Unterbewusstsein von Menschen benutzt, wodurch eine eigene Welt entsteht, in der die zweite Erzählung spielt (was der Leser aber erst ganz am Schluss erfährt). In der zweiten Erzählung betritt der Protagonist eine nüchterne Stadt, in der die Menschen ein sinnfreies, geordnetes Leben ohne Ziele und Wünsche führen. Er muss seinen Schatten (er steht symbolisch für die Seele) beim Durchschreiten der Stadttore abgeben. Der Schatten fristet anschließend ein entbehrungsreiches Leben und muss Sklavenarbeiten verrichten, während er langsam stirbt. Der Protagonist erhält eine besondere Arbeit, bei der er Träume aus Schädeln extrahiert. Als der Alltag in der Stadt beginnt kleine Unregelmäßigkeiten zu zeigen, macht er sich auf die Suche nach einem Sinn.
Murakami hat einen langsamen Stil. Obwohl sich die Handlung ruhig und unaufgeregt entfaltet, besitzen die Bücher einen Sog, der den Leser nur schwer loslässt. Die Handlung ist ziemlich abgefahren und manchmal hatte ich Schwierigkeiten, mich darin heimisch zu fühlen. Murakami gelingt es in diesem recht frühen Werk noch nicht, die Sogwirkung mit jeder Seite aufrecht zu erhalten, was aber der Faszination seiner Erzählkunst keinen Abbruch tut.
Für den Phantastik-Fan ist das Buch wegen seiner Themen interessant. Auf der einen Seite haben wir eine Sci-Fi-Geschichte um einen Datenkrieg in einer merkwürdigen Zukunft. Vielleicht ist es eher Cyberpunk als Sci-Fi, aber diese Diskussion überlasse ich anderen. Auf der anderen Seite haben wir eine Fantasystadt, in der Einhörner auf die Weide getrieben, Schatten zur Arbeit gezwungen und Träume aus Schädeln extrahiert werden. Beide Welten weisen praktisch keine Ähnlichkeiten zu klassischen Genregeschichten auf.
Weird Fiction
Der Genre-Leser und Rollenspieler kann sich daran erfreuen, dass kein einziges Klischee verarbeitet wird. Alles ist seltsam und nichts deutet auf bekannte Welten oder verbrauchte Strukturen hin. Was für den Leser ein tolles Erlebnis ist und durch Murakamis Erzählweise nur selten dazu führt, dass er sich verloren fühlt, kann für den Rollenspieler ein Problem werden. Wenn alles seltsam und fremd ist, hat der Spieler nichts, woran er sich festhalten kann. Der Spielleiter ist gezwungen alles zu erklären, was zu langen und langweiligen Monologen führt. Bekannte Bilder helfen den Spielern, sich zurechtzufinden. Verzichtet eine Welt komplett auf Bekanntes, erschwert das den Spielern den Zugang häufig so drastisch, dass die Kampagne scheitert, bevor sie richtig beginnt.
Murakamis Ideen können zum Glück leicht in bekannte Welten gesetzt werden. Ein Datenkrieg, in dem ein verbotenes Verschlüsselungsverfahren benutzt wird, das das Unterbewusstsein eines Menschen missbraucht und diesen in eine künstliche Welt versetzt, die ihn von der Realität entfernt, kann in jeder Sci-Fi-Welt vorkommen. Die virtuelle Realität des Cyberpunk ist davon gar nicht so weit weg. Einzelne Elemente der Fantasystadt können ebenfalls in unsere Standardwelten gepackt werden. In diesen Details liegen die Möglichkeiten für den Spielleiter. Er kann die Seltsamkeiten guter Weird Fiction in jede seiner Abenteuer einbauen.
Literarische Dungeons
Murakamis Roman lädt nicht sofort dazu ein, als Steinbruch für Rollenspiele genutzt zu werden. Mir fiel eine mögliche Verbindung zum Rollenspiel das erste Mal auf, als der Protagonist und die Enkelin durch eine geheime Tür im unterirdischen Labor in eine dunkle Höhlenwelt eindringen und durchqueren müssen. Es ist ein kurzer Dungeon, der den Leser hier erwartet. Der Aufbau ist natürlich völlig anders, als wir das im klassischen Fantasyrollenspiel erwarten, Murakamis Erzählweise ist dazu einfach zu unterschiedlich. Aber dennoch ist es ein Dungeon mit Fallen und sogar einer Art von Monster, die aus dunklen Löchern dringen. Vielleicht will ein geneigter Leser diese Ideen in seinen nächsten Dungeon einbauen. Mir brachte die Entdeckung ins Gedächtnis, dass es so etwas wie Dungeons (und Rollenspiel) in “echter” Literatur (wie auch immer man diese definieren will) geben kann.
Geräuschlos glücklich
Der Roman beginnt in einem viel zu langsamen und geräuschlosen Aufzug. Auch wenn das etwas ist, was im Rollenspiel nur schwer in eine Handlung zu pressen ist, legt es sofort die Grundlage für “alles ist seltsam”. Schließlich geht die Fahrstuhltür auf und eine dicke, schöne, komplett in Rosa gekleidete junge Frau bittet den Ich-Erzähler ihr zu folgen. Wenn sie spricht, gibt sie dabei kein Geräusch von sich. Ihre Lippen bewegen sich lautlos.
Bei der Frau handelt es sich um die Enkelin des Neurophysiologen, der den Protagonisten zu sich eingeladen hat. Wie sich herausstellt, hört man sie nicht, weil der Professor an einem Gerät experimentiert, mit dem er spezifische Geräusche laut und leise stellen kann – in diesem Fall die Stimme seiner Enkelin.
Nicht nur ist das “weird”, was manche Rollenspieler vielleicht mögen, es steckt eine ganze Kampagne in der Idee der kompletten Geräuschkontrolle. Was könnte ein Mann damit anstellen, wenn er beliebige Geräusche laut und leise stellen kann? Ob es sich dabei um einen Zauberspruch oder ein technisches Gerät handelt, ist schlussendlich egal. Zauberer könnten daran gehindert werden zu zaubern. Gegner könnten abgelenkt oder sogar betäubt werden, indem ihre Stimmen so laut gestellt werden, dass sie die Trommelfelle überlasten. Sehr geschickt eingesetzt, könnte diese Technik ein Wort in einer Unterhaltung laut und betont erscheinen lassen, das eigentlich unbetont im Hintergrund des Satze bleiben sollte, was in diplomatischen Situationen zu Verwirrung und vielleicht sogar zum Scheitern der Mission führen kann.
Ist diese Technologie (oder Zauberei) in der Spielwelt bisher unbekannt, sind spannenden, mystischen Szenen Tür und Tor geöffnet. Ein mächtiger Mann, der sie beherrscht, ist ein ernstzunehmender Gegner und ein toller Bösewicht für eine Kampagne.
Verschlüsselungstechnik
Die beschriebene Verschlüsselungstechnik ist ein schöner McGuffin in jeder Cyberpunk- oder Transhumanismus-Kampagne. Ihr Verbot wegen Unmenschlichkeit bzw. Verunmenschlichung von Erinnerungen, Wesen und Psyche einer Person erscheint in vielen Welten logisch. Auf jeden Fall kann die Technologie leicht zum Zentrum einer Kampagne werden. Einzelpersonen bzw. ihr Unterbewusstsein werden wichtig und umkämpft. Die Kontrolle über die Technologie gibt einen nicht zu überschätzenden technologischen Vorteil und könnte einem Konzern zu weltweiter und angefochtener Macht verhelfen.
Und nicht zuletzt erzählt das Buch davon, wie die Technik zu einer Art Unsterblichkeit im eigenen Unterbewusstsein verhilft. Die Zeit läuft dort völlig anders ab. In der eigenen unterbewussten Welt könnte man eine Ewigkeit verbringen, die im richtigen Leben nur Sekunden dauert. Der Zeitpunkt des eigenen Tod wird damit unendlich lange hinausgezögert. Wenn das kein McGuffin ist, weiß ich es auch nicht …
Träume und Schatten
Ich bin nicht allzu tief in die Interpretation des Romans eingestiegen. Der Schatten dürfte aber für die Seele stehen, die man abgibt, wenn man die Stadt betritt, und die langsam stirbt. Die Träume haben vermutlich eine ähnlich Symbolik. Es sind Hinweise, dass man etwas zurücklässt, wenn man in der Stadt lebt – der lebende, atmende, fühlende Körper könnte eines davon sein. Sollen sich Literaten darüber streiten, was genau welche Bedeutung hat.
Für uns Rollenspieler ist das interessant, wenn man als Spielleiter “Weirdness”, Verrücktheiten und Absonderlichkeiten in seine Fantasy-Kampagne einbauen will. Gibt es vielleicht einen anderen Grund, warum die Schatten abgegeben werden müssen? Der komplette ökonomische Motor der Stadt könnte darauf beruhen. Und schlussendlich könnten die Schatten auch dahinsiechen, weil jemand von ihrer Energie zehrt und für sich nutzt.
Die Träume, die aus den Schädeln von Einhörnern extrahiert werden, bieten noch mehr Potenzial. Was könnten sie erzählen? Woran starben die Einhörner und warum wurden ihre Schädel in einer Bibliothek gesammelt? Und warum sollte jemand angestellt werden, der die Träume befreit?
Auch wenn „Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt“ kein typischer Genre-Roman ist, bietet er eine gewisse, angenehme Nähe zum Rollenspiel. Den Dungeon, ungewöhnliche Einzelideen und nicht zuletzt ganze Welten. Er ist nicht der perfekte Einstieg in die Welten von Haruki Murakami aber legt einen Grundstock – und ist vielleicht der erste Fix einer Sucht nach jedem neuen Buch des Japaners.