Mein Charakter ist ein Pöppel

Autor: Andreas

Wie wichtig ist eine dreidimensionale Spielfigur mit Hintergrundgeschichte, Ecken und Kanten, Zielen und Überzeugungen im Rollenspiel?

Wenn man sich durch das Internet bewegt, kann man den Eindruck bekommen, dass ein detaillierter Hintergrund absolut essenziell ist – ohne Hintergrund kein „gutes“ Rollenspiel. Ein Blick auf die meisten modernen Rollenspiele bestätigt das. Hier gibt es Felder auf den Charakterbögen, in die eine Motivation, Langzeit- und Kurzzeitziele, Marotten oder verschiedene andere Eigenschaften eingetragen werden sollen, die eine Figur genauer beschreiben – sie zu einer dreidimensionalen, fühlenden Figur machen sollen. Häufig heißt es: Je mehr Arbeit man in die Figur steckt, desto besser ist es, denn mehr Arbeit bedeutet mehr Dreidimensionalität.

Wenn man bedenkt, was wir in unserem Hobby tun – nämlich so tun, als wären wir jemand anderes und in Gestalt dieser Figur in eine andere Welt eintauchen – erscheint das auch richtig. Ich kenne viele Spielerinnen und Spieler, die gar nicht anders können, als ihrer Figur einen Hintergrund zu geben und ihr ein wenig „Charakter zu verleihen“.

Ich spiele anders. Als wir uns vor Kurzem in unserer Rollenspielrunde über Charaktere unterhielten, kamen wir alle zu einem ähnlichen Ergebnis. Frank drückte es so aus:

Mein Charakter ist mir egal. Mein Charakter ist ein Pöppel. Manchmal kann er kämpfen und manchmal kann er zaubern und wenn er weg ist, kommt ein neuer Pöppel.“

Macht Frank das zu einem „schlechten Rollenspieler“? Selbstverständlich nicht. Mal abgesehen von allen Plattitüden, die man an dieser Stelle darüber äußern kann, dass jede Person so spielen soll, wie sie will, Hauptsache sie hat ihren Spaß und verdirbt niemand anderem den Spaß, gibt es viele Gründe, warum so eine „platte“ Figur positiv zum Spiel beitragen kann – selbst dann, wenn alle anderen am Tisch Figuren mit Hintergrund bevorzugen.

Die wichtigste Beobachtung dazu habe ich auf den Blogseiten des Angry GM gelesen (https://theangrygm.com/how-to-actually-play-a-character/). Eine wichtige Kernaussage des Artikels ist folgende:

Wir gehen davon aus, dass es im Rollenspiel darum geht, eine Person zu erschaffen und diese darzustellen. Wir denken, es ginge darum als diese Person Entscheidungen zu treffen. Das ist falsch.

Falsch? Der Prozess heißt doch „Charaktererschaffung“, also geht es darum, einen Charakter zu erschaffen und diesen anschließend darzustellen oder nicht?

Leider ist das unmöglich. Wenn wir rollenspielen, werden wir nicht zu einer anderen Person und entscheiden, was diese tut.

Wir überlegen, was wir anstelle dieser Person tun würden. 

Der Unterschied ist subtil, aber essenziell. Die Frage lautet nicht: „Wie reagiert X?“, sondern: „Wie würde ich reagieren, wenn ich X wäre?“ Das „Ich“ bleibt enthalten, denn so sehr wir uns auch bemühen, wir bekommen uns selbst nicht aus der Gleichung herausgestrichen. Warum sollten wir das auch wollen?

Der Angry GM erklärt, dass ein Rollenspielcharakter immer „Ich, aber“ ist.

„Ich, aber mit Zauberkräften“
„Ich, aber mit Schwert und dicken Muskeln.“

Damit hat er auf den Punkt gebracht, was ich seit vielen Jahren empfinde, aber nie in Worte gefasst habe. Akzeptiert man „Ich, aber“, wird für alle das Spiel entspannter. Die Entwicklung einer neuen Figur wird einfacher, weil man sich auf die Unterschiede konzentrieren kann und nicht das Gefühl hat, von Grund auf anfangen zu müssen. Das Spiel selbst wird einfacher, weil niemand versucht, an sich selbst vorbeizudenken.

Außerdem sind lange Hintergründe und komplexe Charaktere genau das: lang und komplex. Wir können nicht erwarten, diese Komplexität an den Spieltisch zu bringen. Zum einen kommt die Komplexität selten zum Tragen, weil wir ganz gewöhnliche Rollenspielabenteuer spielen, deren Komplexität und Flexibilität naturgemäß beschränkt sind. Und zum anderen sind wir als Hobbyisten gar nicht in der Lage diese Komplexitäten umzusetzen. Wir mögen noch so sehr der Meinung sein, dass wir tolle Schauspielerinnen oder Schauspieler sind, wir sind es nicht.

Prinzipiell ist das erstmal egal. Wenn ich auf dem Papier eine vielschichtige Persönlichkeit entwickelt habe und immer nur eine kleine Schicht davon auf einmal an den Spieltisch bringe, ist das vollkommen in Ordnung. In der Praxis werden vermutlich viele der Schichten schlussendlich niemals auftauchen und vergessen. Dem Spiel kann das egal sein.

Was mir mit all der Komplexität allerdings verloren geht, ist die Flexibilität. Wenn ich zu Beginn festlege, dass mein Charakter „so ist“, fällt es schwer, ihn zu verändern. Wenn ich etwas verändere, muss ich den gesamten komplexen Hintergrund hinterfragen. Eine Veränderung „zerstört das Konzept“. Aber geht es in der Fiktion nicht um Charakterentwicklung? (Nicht die Zahlen auf dem Charakterbogen, sondern die Persönlichkeit.) Es ist doch viel spannender zu sehen, wie sich eine Figur verändert, als sie über lange Zeit unverändert zu lassen.

Manchmal stehen tiefgründige Charaktere sogar der Geschichte im Weg. Vor langer Zeit habe ich es irgendwo als Vorteil beschrieben, dass die Cthulhu-Regeln (damals noch in der alten Version) zweidimensionale Charaktere hervorbrachten. Ein Beruf und ein paar Fertigkeiten, viel mehr gab es nicht. Cthulhu-Abenteuer drehen sich zumeist nicht um die Charaktere, sondern um eine Weltrettung, ein uraltes Geheimnis oder eine detektivische Aufgabe – alles Situationen, in denen diffizile Charakterhintergründe eher hinderlich sind. Es wäre schon schade, wenn die Welt nicht gerettet würde, weil sich meine Figur um ihre kranke Oma kümmern muss und keine Zeit hat zu reisen.

Der Angry GM schlägt in dem oben verlinkten Artikel vor, dass man für eine neue Figur nur ihre Rolle und eine Motivation wählen soll. Die Rolle ist entweder die Charakterklasse, der Archetyp oder was auch immer an „Typeneinteilung“ das Regelwerk vornimmt. Die Motivation ist nicht etwa ein definiertes Ziel, sondern eine grundlegende Motivation, die diesem Ziel zugrunde liegt. Es ist nicht: „Rache an Person X, weil sie die Burg meiner Eltern anzündete.“ Stattdessen ist es: „Vergeltung“. Denn wenn Person X erledigt ist, bleibt der generelle Wunsch, Ungerechtigkeiten zu vergelten und beschreibt meine Figur auch im späteren Verlauf der Kampagne.

Wenn wir einfache Charaktere erschaffen, können wir sie besser darstellen. Wir können uns darauf konzentrieren, was eine Figur tut. „Ich, aber mit Schwert“ macht es einfach zu agieren. Die Einfachheit erlaubt es mir außerdem, die Figur nach und nach zu „entdecken“. Manchmal tut sie etwas, was ganz aus meiner eigenen Persönlichkeit kommt oder einfach der vorliegenden Situation geschuldet ist. Es ist einfach, diese „entdeckte“ Eigenschaft der Figur hinzuzufügen. „Ich, aber mit einem Schwert und einer Vorliebe für Katzen.“

Auf diese Weise bekommt mein Pöppel langsam eine Form. Seine Farbe verändert sich, er entwickelt Gesichtszüge. Und irgendwann entwickelt er vielleicht so etwas wie ein Eigenleben. Wenn er lang genug überlebt.